TSINGTAU *a 20/12 04
Angesichts eines Artikels über einen Stempel, der in der ArGe-Stempel-Tabelle mit gerade einmal 40 Euro bewertet wird, fragt man zwangsläufig nach den Gründen für eine Veröffentlichung. Man kann es diesem eher unspektakulären Stempel in der Tat nicht ansehen, aber anhand dieses Stempels lässt sich einerseits eine kleine Geschichte über die Wechsel der philatelistischen Einschätzung eines Stempeldatums, andererseits aber auch eine Geschichte der unterschiedlichen Interessenlagen in Bezug auf die Beschaffung von philatelistischen Produkten schreiben.
Der Artikel will deshalb versuchen, zweierlei darzustellen: Einerseits wie bzw. unter welchen Bedingungen sich Sammler, Händler und „interessierte Kreise“ Marken und/oder Abstempelungen beschafft haben und wie der unterschiedlich genaue Kenntnisstand der jeweils Beteiligten zu wechselnden philatelistischen Bewertungen (falsch, minderwertig, rückdatiert und Gefälligkeitsabstempelung) geführt hat – kurzum: wie also wirtschaftliche Interessen zu mehr oder weniger deutlichen philatelistischen Verwerfungen geführt haben.
Und andererseits wie ein Teil der staatlichen Postbehörden – genauer das Kuratorium des Reichspostmuseums – nicht ganz frei von Eigeninteresse gehandelt hat und wie es dadurch mehrfach zu sich widersprechenden Anweisungen der Postbehörden gekommen ist.

Beide Darstellungen sollen aber schlussendlich zeigen, wie die Verausgabung und Verwendung von Marken schon zu damaliger Zeit in einem extremen Spannungsfeld von ökonomischen, politischen und philatelistischen Interessen stand, wie stark historisch geprägt vermeintlich „objektive“ philatelistische Beurteilungen letztendlich sind und wie schwierig (vielleicht sogar illusorisch, wenigstens aber blauäugig) es oft ist, nach über 100 Jahren zu hoffen, es gäbe eine eindeutige, abschließende Antwort auf die philatelistische Beurteilung mancher Abstempelungen.

A. „TSINGTAU *a 20/12 04“
Vom Stempel „TSINGTAU *a“ lässt das Reichspostamt bei der Firma Gleichmann zwei Versionen herstellen. Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, als dies der einzige Fall bei den Stempeln der Deutschen Kolonien ist! Aus organisatorischen Gründen werden die Stempel in der Regel nach (durchnummerierten) Postämtern vergeben und die jeweiligen Plätze in den einzelnen Postämtern zur besseren Unterscheidung (auch aus Gründen der internen Überwachung) nach Buchstaben unterschieden. Es ist also kaum nachvollziehbar, warum ein Stempel mit demselben Unterscheidungsbuchstaben in nahezu identischer Form ein zweites Mal hergestellt wird ohne einen überholten oder verloren gegangenen Stempel zu ersetzen. Dies dürfte letztlich auch der Grund gewesen sein, warum einem der beiden Stempel bereits nach kurzer Zeit der Unterscheidungsbuchstabe wieder heraus gemeißelt wird. Es kann vermutet werden, dass der zweite Stempel versehentlich – also in Unkenntnis der Tatsache, dass bereits ein „a-Stempel“ existiert – bestellt worden ist.
Der erste Stempel (Abb. 1 - links) nach Manfred Knieper in „Berichte“ (S. 1802 ff.) „Platz 1“ genannt, wird ununterbrochen von 1900 bis 1914 im täglichen Briefdienst verwendet. Der zweite Stempel (Abb. 1 – rechts) wird am 1.4.1901, am 20.12.1904, von Anfang Dezember 1905 bis 3.1.1906 und – jetzt jedoch ohne „a“ – von Anfang Februar 1906 bis 1914 im wesentlichen als Reservestempel („Platz 3“) verwendet. Er taucht nur vereinzelt auf, dabei oft als Ankunfts- oder Formularstempel – mit lediglich einer Ausnahme: Abschläge vom „20/12 04“ kommen relativ häufig vor (Abb. 2)!

B. Philatelistische Einschätzungen
Dieses Datum wird nach heutigem Kenntnisstand als vollwertig angesehen und entsprechend geprüft. Wie aber sah dies die frühe zeitnahe Forschung – ohne die spätere „Aktenlage“ zu kennen? Als Beispiel seien nachfolgend die drei wichtigsten Zitate aufgeführt, die allesamt aus der Feder des sicherlich nach wie vor wichtigsten Forschers und Zeitzeugen, Albert Friedemann, stammen und die die intensive Beschäftigung mit der philatelistischen Einordnung dieses Stempels zeigen.

In den „Philatelistischen Berichten“ aus März 1908 wird der Stempel erstmals ausführlich beschrieben (S. 185): „Es war aber immer noch die Frage offen, wann der zweite Stempel in Gebrauch genommen wurde, und ich betrachte es als einen glücklichen Zufall, daß mir gerade jetzt in diesen Tagen eine Marke Kiautschou, 5 Mark, zur Prüfung vorgelegt wurde, welche den Stempel Nr. XII mit Datum 1.April 1901 zeigt. Das Stück ist in jeder Weise einwandfrei, und ich neige der Ansicht zu, daß das Datum 1.April 1901 das erste Verwendungsdatum des zweiten Stempels a ist, der gleichzeitig mit dem Stempel b Nr. XI angefertigt wurde und in Dienst gestellt werden sollte. Für die Richtigkeit meiner Annahme zeugt der Umstand, daß der Stempel b eine ähnliche Form wie der Stempel a aufweist. Immerhin möchte ich die Frage noch offen lassen, wann der zweite Stempel a in Gebrauch genommen worden ist. Aus der Erklärung des Reichspostamtes geht aber hervor, daß der zweite Stempel in der ursprünglichen Form nicht mehr vorhanden ist, sondern ohne a weiter verwendet wird und zwar wie ich feststellen konnte zu inneren amtlichen Zwecken.“

Auf S. 806 der „Philatelistischen Berichte“ wird bereits das in Frage stehende Datum ins Visier genommen: „Einzig und allein eine Abstempelung TSINGTAU 20.12.04 (...) findet sich häufig im Handel vor, eine bogenweise vorgenommene Abstempelung, die selbstverständlich nicht so hoch zu bewerten ist als die von mir so beträchtlich erhöhten wirklich gebrauchten Stücke.“

Und auf S. 1289 wird direkt auf diese Stelle wieder Bezug genommen: „Es ist mir aber nicht möglich gewesen die Anfang des Jahres 1908 in großen Mengen aufgetauchten bogenweise vorgenommen Entwertung: 20. Dezember 1904 auf Briefen nachzuweisen. Ich bin nach langjährigen immer wieder wiederholten Untersuchungen und Nachforschungen zu der Überzeugung gekommen, daß die Entwertung 20.12.04 NICHT am 20.12.04 mit echtem Stempel angebracht worden ist, SONDERN ERST IM DEZEMBER 1905, wahrscheinlich am 20.12.05. (...) Als der Besitzer jener Markenbestände etwa 1908 darauf aufmerksam gemacht wurde, daß die Abstempelung wahrscheinlich nicht in Ordnung geht, daß sie mindestens rückdatiert sein müsse, wurde von diesem erklärt: Die Abstempelung sei echt, denn sie sei während der Kurszeit vorgenommen und zwar noch in den letzten Wochen der Gültigkeit jener Marken, um sich von jenen Marken noch rechtzeitig gestempelte Vorräte zu sichern.“

C. Kiautschou-Prozess
Das Ende des Artikels deutet bereits den Konflikt an, auf den die ganze Angelegenheit zusteuert. Und – wie in Deutschland üblich – beschäftigt sich einige Zeit später tatsächlich ein Gericht mit diesem Vorfall, worüber Friedemann erneut in seiner Publikation berichtet (S. 2160 f.). Ein Sammler klagt – mit Hilfe des Sachverständigen Max Thier, der sich wiederum auf Friedemanns veröffentlichte Forschungsergebnisse stützt – gegen „eine Firma, nennen wir sie X & Co.“, wie Friedemann so freundlich zurückhaltend schreibt.

In diesem Prozess kommen einige Dinge relativ unerwartet zur Aussprache, da das Reichspostamt ausführlich zu den während des Prozesses vorgebrachten Behauptungen Stellung nimmt. In einem Schreiben heißt es über die Vorgänge: „Auf Veranlassung eines vor mehreren Jahren verstorbenen Beamten ist im Dezember 1904 eine Anzahl Kiautschou-Marken aller Werte an Ort und Stelle mit dem echten, nicht rückdatierten Poststempel „TSINGTAU 20.12.04“ bedruckt worden. Welcher der für das Postamt in TSINGTAU gelieferten Stempel dazu benutzt worden ist, ist hier nicht bekannt und läßt sich nachträglich auch nicht feststellen. Diese Marken hat demnächst das Reichspostmuseum in seine Bestände übernommen, aus denen an den Markenhändler X, Ende 1905 und 1906 größere Mengen Kiautschou-Marken in dem damals gebräuchlichen, bald danach abgestellten Tauschwege veräußert worden sind. Ob sich hierunter auch mit dem 20.12.04 abgestempelte Marken befunden haben, lässt sich aktenmäßg nicht mehr feststellen. Zum Freimachen von Postsendungen sind die eingangs bezeichneten Marken nicht benutzt worden. Ihre Stempelung ist als eine Gefälligkeitsstempelung anzusehen. Das Verfahren wird vom Reichspostamt nicht gebilligt. Im Aufrage des Staatssekretärs gez. Walther.“ (ebd., S. 2162)

Dass die Bestellung offensichtlich einzig und allein für Tauschzwecke (mit einem einzigen Händler) gedacht war, macht ein weiteres Zitat aus einem Schreiben des Reichspostamtes deutlich, in welchem es heißt: „Die (...) Kiautschoumarken hat der Beamte unterm 5. August 1904 und 31. Oktober 1904 bestellt, nachdem das Reichspostamt die Neuausgabe von Postwertzeichen in der Dollarwährung in Aussicht genommen hatte. Die Ausführung der Stempelung ist dem Beamten von seinem Beauftragten in Ostasien unterm 27. Dezember 1904 bestätigt worden. Bei der Bestellung hat der Beamte darum ersucht, die gestempelten Marken daselbst so lange zu belassen, bis diese durch das Reichspostamt eingefordert wurden. Die Einsendung dieser Restbestände an das Reichspostmuseum wurde vom Reichspostamt erst unterm 28. Juli 1905 angeordnet, da sich die Einführung der neuen Postwertzeichen wider Erwarten verzögerte.“ Und am Ende nicht zu vergessen: „Das Verfahren des Beamten, der jene Kiautschoumarken hat abstempeln lassen, widersprach schon damals den geltenden Dienstvorschriften.“ (ebd., S. 2164)

Exkurs I:
Die jeweils letzten Anmerkungen der beiden zitierten Schreiben sind völlig korrekt. Denn bis 1901 ist es für Briefmarkensammler und -händler üblich, sich gebrauchte Bestände durch Bogenabstempelungen zu beschaffen, was zu dieser Zeit auch absolut nichts Anrüchiges an sich hat. Wenn die „fortgeschrittenen“ Sammler zwar durchaus gelaufene Post bevorzugen, so wird in einer großen Anzahl der Fälle auf eine portorichtige Frankierung aber trotzdem kein besonderer Wert gelegt. Bei dem „Verfahren“ der Herstellung von gebrauchten Werten kommt es öfter vor, dass das RPA einzelnen Händlern/Großkunden mit direkten Lieferungen an das gewünschte Postamt in der Kolonie (oft mit Verbindungsleuten vor Ort) behilflich ist. Nach dem Stand der Akten werden dem Reichspostamt mehrfach große Aufträge über mehrere Tausend Reichsmark erteilt (Abb. 3) und die entsprechenden Sendungen – nach Absprache mit den Auftraggebern – an Postagenturen gesandt, um dann vor Ort „abgearbeitet“ zu werden, was teilweise zu Beschwerden der betroffenen, oft nur nebenberuflich eingesetzten Postagenten führt (Abb. 4) oder eben zu der nachdrücklichen Bitte um Genehmigung, die für den philatelistischen Handel vorgesehenen Werte aus Zeit- und Arbeitsersparnis als Bogenware stempeln zu dürfen, mit dem Hinweis, der Besteller der Bogen habe ausdrücklich darum gebeten (Abb. 5).
Erst durch eine Verfügung des Reichspostamtes aus dem Jahre 1901 wird dieses „abkürzende“ Verfahren der Bogenabstempelung untersagt. Ab diesem Zeitpunkt müssen die zu stempelnden Marken auf Umschläge geklebt und einem Gewährsmann vor Ort zur Aufgabe zugesandt werden. Eine grundsätzliche Änderung in der Art und Weise wie Sammlerbriefe zusammengestellt werden, hat dies aber nicht zur Folge.

Diese Dienstanweisung wird in Friedemann/Dr. W. erwähnt, liegt dem Autor aber nicht im Original vor. Das Datum der Veröffentlichung könnte im Zusammenhang mit Marianen-Abstempelungen stehen, die in den Jahren 1900/1 im wesentlichen in Form von auf Konzeptbogen aufgeklebten Marken mit den bekannten willkürlich eingestellten Daten (der Sorte II) auf den Markt kommen. Es dürfte wohl nicht übertrieben sein zu behaupten, dass der größte Teil davon durch von Zelewski und die Gebrüder Fritz hergestellt und vertrieben wird. Von dieser monopolartigen Marktstellung sind andere Händler/Sammler vermutlich nicht begeistert, was zu entsprechenden Beschwerden geführt haben dürfte.

Wenn auch die erste Verfügung nicht vorliegt, so kann doch eine spätere aus dem Jahre 1910 gezeigt werden (Abb. 6), diese wiederholt noch einmal fast wortgleich die Anweisung: „Es ist nicht erlaubt,
    1. sogenannte Gefälligkeits-Stempelungen zu Briefmarken-Sammelzwecken zu besorgen, d.h. Postwertzeichen, die sich nicht auf Postsendungen befinden, sondern z.B. nur auf Papierstücke geklebt sind, mit dem Poststempel zu entwerten – der Postaufgabestempel hat nur zum Bedrucken von Postwertzeichen auf Postsendungen zu dienen -,
    2. Briefsendungen, die der Postanstalt mittels der Post in Briefen oder Paketen von auswärts zugesandt werden, mit dem Aufgabestempel zu bedrucken und zur Absendung zu bringen.“
Diese Verbote werden aber wohl immer wieder übertrieben „amtlich“ ausgelegt, da das Reichspostamt – zur Abwehr weiterer Sammlerbeschwerden – nachjustieren muss: in einer Verfügung vom 3.6.1907 heißt es: „Um den immer wiederkehrenden Beschwerden von Briefmarkensammlern über die unterbliebene Stempelung überzählig aufgeklebter Freimarken auf postordnungsmäßigen Briefsendungen nach Möglichkeit vorzubeugen, wird hierdurch angeordnet, daß bei postordnungsmäßig beschaffenen Gegenständen sämtliche, auf den Sendungen vorhandene gültige Freimarken mit dem Aufgabestempel zu bedrucken sind.“ (Abb. 7)

Auch das sammlerfreundliche Stempeln von Marken/Belegen ist verschiedentlich Gegenstand von Anweisungen (Abb. 8). Die Reichspost will selbst in großem Maßstab an der „philatelistischen“ Versorgung der Sammler – nicht anders als heute – verdienen und druckt bei entsprechend großen Bestellungen für diese Zwecke vermutlich sogar Sonderauflagen – denn dass verschiedene Werte ausschließlich in gebrauchter (z.B. DNG, MiNr. 1 d mit (Bogen-)Entwertung „Friedrich-Wilhelmshafen 3/8 01“) oder ungebrauchter Erhaltung (u.a. Togo, MiNr. 1 f) vorkommen, ist kaum anders zu erklären. Das hieße, dass bestimmte Auflagen von Farbtönungen ihre Existenz ausschließlich diesen Bestellungen verdanken; wobei es sich interessanterweise nicht – wie oft behauptet – nur um die Befriedigung von Händler- sondern, denken wir zum Beispiel nur an den Germania-Ring, auch von Sammlerinteressen handelt.

D. Philipp Kosack
Das Verbot der bogenweisen Abstempelung ist zum Zeitpunkt der in Frage stehenden Entwertung somit schon einige Jahre in Kraft, aber bei den Geschäften mit der ominösen „Firma X & Co.“ nur hinderlich. Die meisten Leser werden bereits ahnen, dass es sich bei dieser Firma um niemanden anderen als Philipp Kosack handelt, den vermutlich größten Briefmarkenhändler der damaligen Zeit.

Diese Tatsache beweist ein Schreiben vom 30.4.1910 (Abb. 9), in welchem Kosack selbst die Vorgänge näher beschreibt: „Euer Excellenz ist bekannt, dass ich während 10 Jahren vom Postmuseum im Tauschwege die Briefmarken erhalten habe, die von den Postanweisungen aus den deutschen Kolonien und Schutzgebieten herrührten. Ich habe für diese Marken Preise gezahlt, die mir vom Kuratorium des Postmuseums diktiert wurden und teilweise ziemlich hoch waren, höher jedenfalls, als sie irgend ein anderer Händler zahlen konnte oder mochte. Der von Zeit zu Zeit aufgestellte Tarif, dem ich mich fügen musste, befindet sich bei den Akten des Postmuseums.“

Dieses Zitat lässt bereits deutlich die „heikle“ Geschäftsverbindung mit dem Reichspostmuseums erahnen. Für den mit den Umständen nicht ganz so vertrauten Sammler mag sich nun die Frage nach den Hintergründen aufdrängen, vor allem, wenn man sich eine bereits zitierte Stelle noch einmal bewusst vergegenwärtigt: Was ist unter der Beschreibung „damals gebräuchlicher, danach abgestellter Tauschweg“ zu verstehen??

E. Geschäftsverbindung Kosack – Lindenberg – Hennicke
Zur Beantwortung dieser Frage muss ein wenig ausgeholt werden: Seit Mitte der 1880er Jahren wird der Auf- und Ausbau der Schausammlungen des Reichspostmuseums mit Nachdruck und systematisch vorangetrieben. Der Landgerichtsdirektor Carl Lindenberg ist als sachverständiger Beirat wesentlich an diesem Aufbau beteiligt, auch wenn er bereits zum 1.4.1899 diese Tätigkeit wieder aufgibt. Der Postsekretär und spätere Geheime Oberpostrat Hennicke, der 1897 zum Kurator des Museums ernannt wird, ist ebenfalls in die „Vorgänge“ involviert. Innerhalb des Dreigestirns Kosack-Lindenberg-Hennicke dürfte eine Vielzahl von mehr oder weniger „unsauberen“ Geschäften ab ca. 1890 abgewickelt worden sein.

Bekannt werden diese Vorgänge aufgrund der Untersuchungen der sog. Berliner Aufklärungskommission, die durch den Berliner Philatelisten-Club 1905 eingesetzt wird, um die Frage zu beantworten, ob es sich bei der sog. Berliner Ausgabe der Marshall-Inseln um Neudrucke handelt oder nicht. Diese Angelegenheit ist dabei nur die „Spitze des Eisbergs“, denn der Verdacht, dass es auch in früherer Zeit zu nicht ganz durchschaubaren Ausgaben kommt, wird bereits von vielen Zeitgenossen geäußert. Es ist ein offenes Geheimnis, das Kosack mit dem Kuratorium in einem „besonderen“ Geschäftsverhältnis steht. Laut Aufklärungskommission belaufen sich die Schulden des Reichspostmuseums für den Ausbau seiner Schausammlungen ausländischer Briefmarken auf nahezu 200.000 Goldmark. Als einer der wenigen großen Händler ist Kosack in der Lage, fast jede gesuchte Marke zu beschaffen und auch fast jeden Preis zu zahlen. Andererseits weiß Kosack als Marktkenner genau, welche älteren deutschen Ausgaben knapp sind: Für einige seltene Abarten liegen ihm umfangreiche Bestellungen vor. Fast zwangsläufig dürfte sich somit der Ausweg andeuten: Das Kuratorium des Postmuseums veranlasst die Reichsdruckerei verschiedentlich zur Herstellung von Neudrucken. Zu diesen Ausgaben gehören mit einiger Wahrscheinlichkeit neben den MiNr. 37 a ND, 41 b ND, 45, 49 und 50 ND U III des Deutschen Reichs auch die DP China MiNr. I (neben Neudrucken im Viererblock der kompletten Serie), die Nach- und Neudrucke der DP Türkei MiNr. 1 Na – 5 Na und 3 Ne II (vermutlich auch ein Neudruck der MiNr. 23 DD) sowie die sog. Berliner Neudrucke der Marshall-Inseln.
Dies dürfte bereits umfassend die Geschäftstüchtigkeit des Reichspostmuseums und den Aufwand erklären, den es betreibt, um über Druckaufträge an die Reichsdruckerei an Markenmaterial zu kommen, welches dann auf eher undurchsichtigen Wegen „vertrieben“ wird.
Die Neudrucke stellen dabei aber nur einen Teil des schwunghaften Handels dar. Auch die Marken auf den Paketen und Postanweisungen werden gezielt einer „philatelistischen“ Verwertung zugeführt. Bereits in einer Verfügung vom 2.8.1900 heißt es unter Punkt 2 (Abb. 10):
„Die in den Schutzgebieten eingelieferten Postanweisungen und ein Theil der Begleitadressen zu Packeten gelangen nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen an das Postmuseum, wo die Freimarken abgetrennt und theils zur Vermehrung der Postwerthzeichen-Sammlung, theils zu Wohltätigkeitszwecken (Töchterhort pp.) verwendet werden. Um den Erlös ergiebiger zu gestalten, ist es erwünscht, wenn bei allen Postanstalten in den Schutzgebieten pp. der Frankobetrag für Postanweisungen und für Packete (letztere an Empfänger in Berlin) nicht durchweg in einer Freimarke sondern in mehreren verrechnet wird, dergestalt, dass z.B. eine mit 40 Pf. zu frankirende Postanweisung Freimarken erhält von 5 + 5 + 10 + 20 oder 5 + 10 + 25 Pf. u.s.w. Selbstverständlich hätte ein solches Verfahren nicht die Regel zu bilden; es genügte schon, wenn es ab und zu geschähe.“ Dies Verfahren wird auch später beibehalten: Allerdings werden jetzt die kolonialen Hauptpostämter – neben einigen besonders großen Postämtern in Deutschland – angewiesen, die Marken von den Postanweisungen nach deren Aufbewahrungsfrist selbst abzulösen – wenn auch nur ab dem Nennwert von 2 Mark, da sich bei den kleineren Werten der Aufwand nicht lohne.

Exkurs II:
Auch diese Verfügung steht mehr oder weniger deutlich im Widerspruch zu den bisherigen Anweisungen. Schon in der Verfügung 82 des Amtsblattes 33 aus dem Jahre 1875 heißt es klar: „Da (...) die Deutlichkeit der Adresse leidet, und das Stempelgeschäft erschwert wird: so ersucht das General-Postamt, die Freimarken stets in die rechte obere Ecke zu kleben und die Verwendung mehrerer Marken für solche Werthe, für die es eine Marke giebt, thunlichst zu vermeiden.“
Diese Anweisung wird immer wieder erlassen, so zum Beispiel noch in der Allgemeinen Dienstanweisung (Abschnitt V., Abteilung 2.) aus dem Jahre 1904; dort heißt es: „Das bar erhobene Franko wird in der Regel durch Freimarken verrechnet und zwar unter Verwendung einer möglichst geringen Zahl von Marken.“

Aber nicht nur an Ausschnitten aus Paketbegleitadressen und Postanweisungen hat das Reichspostmuseum Interesse! In der selben Verfügung vom August 1900 heißt es unter Punkt 3: „Es ist wiederholt vorgekommen, dass bei einzelnen Postanstalten in Folge besonderer Umstände der Bestand an gewissen Freimarkenwerthen rasch erschöpft war und die Postanstalt sich gezwungen gesehen hat, durch Aufdruck pp. Aushülfswerthe für die Frankirung zu schaffen. In solchen Fällen sind dem Postmuseum einige Exemplare solcher Werthzeichen zu übersenden.“ (Abb. 10)

Diese Verfügung muss man eigentlich mehrmals lesen, um sie zu glauben! Denn Halbierungen von Marken oder deren provisorische Umwertung sind zu keinem Zeitpunkt zugelassen. Bei Markenmangel ist ausdrücklich das so genannte Barfreimachungsverfahren anzuwenden – wie beispielsweise 1893/95 in Apia, 1900 in TSINGTAU, 1902 auf dem Transportdampfer Pisa und 1910 in Ponape.
Ein Verbot von Halbierungen ist immer wieder erlassen worden, so heißt es zum Beispiel im Nachgang zu den Provisorien der Karolinen (MiNr. 7 Pv und 10 H) in einer entsprechenden Verfügung vom 10.10.1910 unter Punkt 3: „Es ist nicht erlaubt, (...) für eine Postwertzeichensorte, selbst wenn diese tatsächlich ausnahmsweise nicht mehr vorrätig sein sollte, Aushilfswerte dadurch zu schaffen, daß eine noch vorhandene andere Sorte mit dem Aufdruck des Preises der fehlenden Sorte versehen oder halbiert wird.“ (Abb. 6)

F. Vernichtung der Unterlagen
Leider können hinsichtlich der obigen Zusammenhänge nur Vermutungen geäußert werden, da sich in den Akten keine konkreten Hinweise (Lieferscheine, Bestellungen, Anweisungen zum Druck etc.) zur dargestellten Geschäftsverbindung finden lassen. Im Februar 1908 werden die Tauschgeschäfte mit Kosack – nach einer Reichstags-Sitzung im Februar 1904 – erneut Gegenstand einer hitzigen Debatte; alle Beteiligten geraten damit zunehmend unter Druck. Es soll ein Vertrag existieren, laut dem Kosack alle außer Kurs gesetzten Marken, Fehldrucke, Essais und die abgelösten Marken von Telegrammen, Postanweisungen und Paketkarten erhält. Als Gegenleistung soll er lediglich als Sachverständiger bei Einkäufen für das Reichspostmuseum dienen (Abb. 11), was das Reichspostamt kühl und abweisend bestreitet.
In der erwähnten Sitzung wird der damalige Staatssekretär Kraetke scharf angegriffen. Offensichtlich um die Spuren der Geschäftsverbindung mit Kosack zu verwischen, gibt Kraetke 1916 kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt, die Anweisung, diesbezügliche Unterlagen (vor 1908) zu vernichten. Über Druckaufträge „zum Besten des Postmuseums“ wie es in den Akten oft heißt, kann also weitgehend nur spekuliert werden. Bis etwa 1910 werden diese Bestände „im Tauschwege“ abgegeben, ab diesem Zeitpunkt sollen sie, offensichtlich aufgrund der anhaltenden Kritik, öffentlich versteigert werden. Es findet allerdings – abgesehen von den Versteigerungen der Restbestände kolonialer Werte in den Jahren 1919/24 – nur eine einzige Versteigerung Ende 1910 statt und diese betrifft auch nur „normale“ Postausschnitte von Kolonialwerten.

G. Schlussbemerkungen
Die vorstehenden Ausführungen anhand des als exemplarisches Beispiel ausgewählten Stempels „TSINGTAU 20/12 04“ dürften ebenso wie die Exkurse in die sich widersprechenden amtlichen Verfügungen je für sich deutlich gemacht haben, unter welchen Bedingungen sich die Marktteilnehmer – egal ob Sammler, Händler, Kuratorium oder Amtspersonen – zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen verhalten haben und wie die Kolonial-Philatelie zu einem Gutteil auch als Spielball dieser Interessen angesehen werden muss. Als ein weiteres, beredtes Beispiel für eine solche Verwicklung beschreibt Friedhelm Beck in Berliner Protokolle 110 (S. 46 ff.) die Zusammenhänge der (Voraus-)Verausgabung der Deutsch-Südwestafrika, MiNr. 9!!
Dass sich Sammler angesichts dieser Gemengelage und aufgrund zunehmender Kenntnisse (von Manipulationen etlicher Entwertungen und Besonderheiten) vermehrt dem „reinen“, unverdächtigen Belegstück zuwenden, ist nachvollziehbar. Dies kann aber nicht soweit gehen – wie es noch in aktuellen Veröffentlichungen versucht wird – den Bogenabstempelungen den Status von minderwertigen Entwertungen anzudichten. Denn selbst wenn es gelänge, eine Vielzahl von Aufträgen zu Sammelzwecken zu identifizieren: Worin soll letztlich der Unterschied zwischen einer Marke mit „Bogenabstempelung“ und einem Ausschnitt desselben Wertes aus einem Sammlerbrief bestehen – denken wir zum Beispiel nur an die ehemals „verdächtigen“ und deutlich geringer bewerteten Briefe vom 19.1.14 mit Entwertung aus Deulon, die mit Bogenteilen (!) von 3 und 5 Pf-Werten frankiert sind!

Es kann deshalb für einen philatelistischen Experten nur darum gehen, eine wie auch immer geartete Verfälschung festzustellen, nicht aber die Ursache der Entwertung zu klären. Aus diesem Grund verzichtet wohlwissend auch die Prüfordnung des Bundes Philatelistischer Prüfer auf die Unterscheidung Bedarfs- und Sammlerpost, was in der Konsequenz bedeutet, dass Bogenabstempelungen, sofern sie NICHT als rückdatiert oder auf andere Weise verfälscht nachzuweisen (!) sind, als vollwertig zu prüfen sind – die der einzelne Sammler aufgrund seiner Vorlieben deshalb aber noch lange nicht sammeln muss.

Der oben anhand der Bogenabstempelung „TSINGTAU 20/4 04“ ausführlich dargestellte Tatbestand, dass dieses Gebiet als eines der ersten bereits stark von Sammlerwünschen geprägt und damit – als direkte Konsequenz – auch von monetären Interessen durchdrungen war, macht aber wohl hinreichend deutlich, wie interessant und aufschlussreich die Erforschung solcher Verquickung sein kann: dass also diese Fragestellungen auch durchaus ihren Reiz entfalten können! Denn aus Sicht des Autors kann der Aspekt der „Sammlerpost“ bei diesem Sammelgebiet nicht einfach ignoriert werden! Und will man mit der „Sammelei“ von historischen Zeugnissen auch die damalige Zeit und ihre jeweiligen Vorlieben verstehen, so kann diese Problemstellung auch durchaus fruchtbaren Eingang in die Sammlungen finden.

Der vorstehende, auf Anregung von Philipp Ruge geschriebene Artikel stellt die ausführlich überarbeitete Fassung eines anlässlich der Jahreshauptversammlung 2008 in Berlin gehaltenen Vortrags über die Entwertung „TSINGTAU 20/12 04“ dar.

(Der Artikel erschien 2012 in „Berichte für Kolonialbriefmarkensammler“, Nr. 134, S. 4109 ff.)

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